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4. Widersprüche zwischen der neuen Definition und der lexikographischen Praxis

Die Übereinstimmung zwischen der neuen Definition der Combining forms und der Verwendung des Begriffs in den Wörterbüchern ist größtmöglich, - aber nicht total. Neben einigen immer wieder als Combining forms bezeichneten freien Formen wie -free und -proof, die die neue Definition bewußt ausschließt, gibt es auch einige gebundene, traditionell als Affixe bezeichnete Formen, die sie, zunächst unbeabsichtigt, mit eingeschlossen hat:

4.1. Die unerkannten Combining forms

Koschmieder gibt das Beispiel einer gebundenen "autosemantischen" Form; ein polnisches Diminutiv-Suffix (Koschmieder 1957: 17).

Auch wenn man mit absoluten Urteilen über den lexikalischen Gehalt einer Form vorsichtiger sein sollte als Koschmieder, so muß man doch sagen, daß auch das englische Diminutiv -let (in: booklet, leaflet, piglet, ...) einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer Information hat: -let steht für das autonome Monem small.

Einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer Information muß man auch bei sogenannten Augmentativ-, Pejorativ- und Motionssuffixen bejahen. Im Englischen wären daher neben -let auch noch -ette und -ess als Formen zu nennen, die man nach der neuen Definition nicht mehr als Suffixe, sondern als Combining forms führen müßte.

Man könnte diesen Bruch mit Traditionen der Grammatik der distributionell-semantischen Definition zum Vorwurf machen, stellte sich das Problem nicht auch schon bei einer rein distributionellen Definition: Auch wenn man, ähnlich wie Surek-Becker, eine "Fähigkeit der Kombination mit gebundenen Formen" als Kriterium zugrundelegt, müßte man sagen, daß es sich, zumindest bei -ess und -ette, um Combining forms handelt, da sie in mistress, tigress, bathinette und stockinette durchaus in Verbindung mit gebundenen Morphemvarianten auftreten.

Nach der neuen Definition kann man Diminutiv-, Pejorativ-, Motions- und ähnliche Morpheme guten Gewissens unter Combining forms fassen, da man sie in Bezug zu anderen Combining forms vergleichbarer Bedeutung setzen kann.

4.1.1. Diminutivmorpheme -let und -ette

Diminutive Bedeutung kann im Englischen neben dem oben erwähnten -let auch -ette tragen. Wie -let entspricht -ette dann dem autonomen Monem small, so etwa in cigarette, kitchenette, maisonette. In der Bedeutung, und damit dem Gehalt an lexikalischer Information vergleichbar sind die Combining forms micro- und mini-.

4.1.2. Pejorativmorphem -ette

Manchmal verschmelzen auch diminutive und pejorative Bedeutung, wie z.B. in novelette: 'short novel, regarded as inferior in quality'. In pejorativer Bedeutung entspricht -ette oft dem autonomen Monem fake wie z.B. in chemisette, flannelette, leatherette, satinette, woolenette. (vgl. Lehnert 1971: 178f.). Vergleichbar ist -ette in dieser Bedeutung der neoklassischen Combining form pseudo-.

4.1.3. Motionsmorpheme -ette und -ess

Dem autonomen Monem female entsprechen -ette (conductorette, majorette, usherette) und -ess (actress, countess, hostess, lioness). Dem Gehalt an lexikalischer Information nach vergleichbar sind -ette und -ess den von Webster's als Combining forms verzeichneten Formen he- und she- (he-dog, she-bear) (vgl.: 5.6.2.). Auch bei -ette und -ess in der Bedeutung female kann zusätzlich eine pejorative Konnotation mitschwingen (poetess, Negress, suffragette).

4.1.4. Sonderbedeutung von -ette

In laund(e)rette, couchette, sleeperette liegt keine der bisher erwähnten Bedeutungen von -ette vor. Hier vertritt -ette wahrscheinlich nur die autonomen Moneme makeshift oder provisional, 'provisorisch'. Eine leicht pejorative Bedeutung ist dabei nicht ganz ausgeschlossen. Liegewagen (couchette, sleeperette) wie Waschsalons (launderette) sind ein Behelf für Leute, die sich keinen Schlafwagen bzw. keine Waschmaschine leisten können oder wollen.

4.2. Webster's (im Widerspruch zur neuen Definition)

Webster's benutzt den Begriff "Combining form" - besonders, was nicht-neoklassische Formen betrifft - in äußerst inflationärer Weise. Einerseits faßt es darunter auch freie Formen, die auch nach rein distributioneller Definition auszuschließen wären. Andererseits führt es unter dem Begriff auch Formen relativ geringen Gehalts an lexikalischer Information, die nach der neuen, distributionell-semantischen Definition auszuschließen sind.

4.2.1 Freie Synsemantika

Partikeln, die Präpositionen entsprechen, wie after- (-care, dinner), down- (-come, -drawing), out- (-door, -do), over- (-charge, -due) und up- (-braid, -bringing) weisen einen relativ geringen Gehalt an lexikalischer Information auf. Dennoch verzeichnet Webster's alle oben aufgeführten Partikeln als Combining forms.

Mit dieser Klassifizierung stellt sich Webster's in Widerspruch zu allen übrigen untersuchten Wörterbüchern. Collins verzeichnet diese initialen Elemente mit Ausnahme von down- durchgängig und das OED häufig als Präfixe. Auch hierüber wäre zu streiten; handelt es sich doch mit Ausnahme von counter- um auch frei als Präpositionen oder teilweise auch als Adverbien vorkommende Partikeln, denen also das Kriterium der Gebundenheit fehlt. Chambers und Longman sprechen, ähnlich wie Marchand davon, daß diese Partikeln auch "in composition" bzw. "in combination" auftreten. (vgl.: Marchand 1969: 108)

Wie letztgenannte Etiketten bei Chambers und Longman scheint also bei Webster's die Combining form immer dann herhalten zu müssen, wenn etwas im Bereich der Wortbildung aus dem üblichen Rahmen fällt.

4.2.2. Freie Autosemantika

Auch freie Formen (-free, -proof), die einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer Information haben, werden bei Webster's als Combining forms verzeichnet. Grund hierfür scheint bei Webster's deren Frequenz zu sein. Hohe Frequenz ist aber, wie unter 2.1.5.1. gesehen, kein abgrenzendes Merkmal der Combining forms.

Die meisten der oben aufgeführten Formen dürften unstrittig sein. Sie weisen in der Zusammensetzung weder phonische noch semantische Verschiedenheit von freien Formen auf. (vgl. 2.1.4.)

Diskutieren ließe sich aber darüber, ob bei folgenden Formen eine Entwicklung von der Combining form weg oder zur Combining form hin schon abgeschlossen ist oder noch anhält. (vgl. 3.2.)

4.2.2.1. "Frei-gewordene" Form -burger

Die Form -burger mag zwar ursprünglich eine Combining form gewesen sein, die nur in Verbindung mit ham-, cheese-, chicken-, fish- usw. existierte. Aufgrund der Vielzahl an -burgers verschiedenster Ausgangsstoffe gewann jedoch burger als Oberbegriff Eigenständigkeit, so daß Verbindungen mit -burger nunmehr als Komposita anzusehen sind. Einzige Ausnahme ist hamburger, bei dessen erster Konstituente es sich um ein unikales Morphem handelt: ham- steht nicht für ham, 'Schweineschinken', sondern für ground beef, 'Rinderhack'.

4.2.2.2. "Unfrei-werdende" Formen -craft und -worthy

Bei -craft und -worthy ist die Entwicklung umgekehrt: -craft und -worthy werden zwar mit gleicher Lautung und Bedeutung auch immer noch frei benutzt, wirken aber isoliert mehr und mehr archaisch. Ähnlich ist oder war die Entwicklung wohl auch bei dem von Marchand behandelten -monger (Marchand 1969: 357, vgl. 3.1.).

zum Kapitel 5.

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