5. Widersprüche innerhalb der lexikographischen Praxis
Vieles ist bei der Verwendung des Begriffs "Combining form" im Fluß.
Was ein Wörterbuch an einer Stelle als Combining form erkennt,
muß ein anderes Wörterbuch an gleicher Stelle oder auch dasselbe
Wörterbuch an ähnlicher Stelle noch lange nicht als Combining form
bewerten.
5.1. Numeralia
Große Verwirrung herrscht unter den Lexikographen, ob sie Numeralia
als Combining forms oder als Präfixe verzeichnen sollen. Die folgende
Tabelle beschränkt sich auf die Äquivalente der natürlichen Kardinalzahlen. Die Auflistung erfolgt hier ausnahmsweise in numerischer
Reihenfolge. In Klammern sind die Herkunftssprache und die heutige
Bedeutung angegeben:
Schaut man bei Collins unter four, five, six, seven usw. nach,
so spricht es inkonsequenterweise hier bei tetra-, quadri-, penta-,
hexa-, hepta- usw. nicht mehr von Combining forms, sondern von
"related Prefixes".
Diese lexikographische Desorientierung hat ihren Grund: Kardinalzahlen, um deren gebundene Äquivalente es sich hier handelt, werden
unterschiedlich einmal in erster Linie als Nomen (Collins), einmal primär als Adjektive (Webster's) klassifiziert. Trotz ihrer lexikalischen Information, die sie unbestritten tragen, erfüllen Kardinalzahlwörter jedoch auch in starkem Maße die funktionalen Aufgaben des unbestimmten Artikels. Wo Kardinalzahlen stehen, ist der unbestimmte Artikel ausgeschlossen. Dies unterscheidet sie von gewöhnlichen Adjektiven:
vgl.: a book |
*a one book |
a blue book |
Im Deutschen sind sogar - anders als im Englischen - unbestimmter
Artikel und die flektierte Form des Zahlworts 'eins' formal identisch.
Der unbestimmte Artikel ist ein eher funktionales Monem. Es
verwundert daher nicht, daß besonders die der 'Eins' (und damit dem
unbestimmten Artikel) numerisch nahestehenden Formen von mono-
bis tri- besonders häufig als Präfixe und nicht als Combining forms
bezeichnet werden.
Man kann Zahlwörter als eher funktionale oder als eher autonome Moneme auffassen. Je nachdem, welche Sichtweise man bevorzugt, kann man die ihnen entsprechenden gebundenen Formen als Präfixe oder als Combining forms bezeichnen. Nur sollte man dann bei einer einheitlichen Bezeichnung bleiben. Eine durchgängige Klassifizierung lassen aber alle näher untersuchten Wörterbücher vermissen.
5.2. Antonyme
Inkonsistenzen zeigen Lexika auch bei der Klassifizierung von Gegensatzpaaren. Es ist wohl legitim anzunehmen, daß echte Antonyme unter
umgekehrtem Vorzeichen jeweils denselben Gehalt an lexikalischer
Information besitzen. Darüber hinaus kommen sie auch in jeweils
denselben Distributionen vor. Egal, ob man also rein distributionelle
Definitionen der Combining forms und der Affixe zugrundelegt oder
distributionell-semantische Definitionen; antonyme gebundene Wortbildungselemente dürfen in der Einordnung als Combining forms bzw. als Affixe nicht voneinander abweichen.
Genau dies ist aber bei Collins, Longman, und bei Webster's der
Fall, was das Gegensatzpaar caco- (zu gr. κακος, schlecht) und
eu- (zu gr. εύ-, gut) betrifft: Während sie caco- als Combining form
bezeichnen, führen sie eu- als Präfix. Das OED klassifiziert caco-
einfach als Combining form und eu- doppelt sowohl als Combining
form als auch als Präfix. Beide Formen, caco- und eu- kommen in denselben Umgebungen gebundener Formen vor:
cacography, eugraphy; |
'Sauklaue' |
und |
'Schönschrift' |
cacology, eulogy; |
'Gossensprache' |
und |
'gewählte Sprache' |
cacophony, euphony; |
'Mißklang' |
und |
'Wohlklang' |
usw. |
5.3. Etymologisch-semantische Identität
Von gleich hohem Gehalt an lexikalischer Information sollte man auch
bei Formen ausgehen, die auf jeweils dasselbe Etymon zurückgehen.
So sind etwa -oid (alkaloid, humanoid) und -ode (cestode, nematode)
gleichgelagert: -oid und -ode bezeichnen beide Ähnlichkeit. Beide
Formen bestehen aus dem o des vorausgehenden Elements und είδης,
'Form'. Insofern ist es unverständlich, daß Collins -oid als Suffix,
-ode aber als Combining form bezeichnet.
Die terminale Form -oid wird von keinem der näher untersuchten
Wörterbücher als Combining form verzeichnet. Ausnahme ist hier
vielleicht Chambers, das hier wie bei fast allen nicht-abgeleiteten
Combining forms das Etikett "in composition" benutzt. Bei der
abgeleiteten bi-morphemischen Form -oidal spricht es sogar von
einer Combining form.
Auch bei anderen bi-morphemischen terminalen Combining
forms, die in ihrem ersten, autonomen Bestandteil auf dasselbe
Etymon zurückgehen und sich nur in ihrem zweiten, funktionalen
Bestandteil unterscheiden, sollte man einen gleich hohen Gehalt an
lexikalischer Information unterstellen. Collins offenbart Inkonsistenz,
wenn es die Substantivformen -lysis und -lyte als Combining forms,
die Adjektivform -lytical aber als Suffix klassifiziert.
Die gleiche Inkonsistenz zeigen Longman und Webster's bei dem
folgenden Beispiel:
Die Formen -facient, -faction, -fic, -fication und -fy gehen alle
das lateinische Etymon facere, "machen" zurück.21 Sie unterscheiden
sich lediglich im Hinblick auf ihre funktionalen Konstituenten:
-ation, -ient, und -tion. Bei -fic und -fy sind Portmanteau-Morphe
anzunehmen, in denen sowohl je ein lexikalisches und ein funktionales
Element enthalten sind. Es ist inkonsistent, wenn Longman und
Webster's hier einmal von einer Combining form und ein anderes Mal
von einem Suffix reden.
5.3.1. Nebenformen
Wie Collins und Longman verweist auch das OED bei der Form -ify
auf die Hauptform -fy mit etymologisch korrekter Zuordnung des
Fugenvokals -i-. Daß es bei -fy von einem Suffix und bei -ify von
einer Combining form spricht, erscheint unlogisch und dies umso
mehr, als das OED sonst bei terminalen Formen diesen Begriff sehr
sparsam verwendet22. Allerdings fiel hier ein ähnlich gelagerter Fall
auf: Bei -athon (talkathon, walkathon) spricht das OED davon, daß es
sich um "a combining form, barbarously extracted from Marathon"
handele, während es bei -thon wertneutral von "suffix used in such
words as telethon, moviethon, poolathon, pianothon, Rockerthon"
spricht.
5.4. Verbale Combining forms
Alle näher untersuchten Wörterbüchern haben offensichtlich große
Vorbehalte, auch verbale Formen als Combining forms zu klassifizieren.
Dies verwundert, denn die Verben, für die diese verbalen Formen
stehen, tragen als Vollwörter einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer Information. Bei den Recherchen zu dieser Arbeit fiel bei Collins
keine einzige verbale Combining form und im OED nur -ify auf.
Die einzige verbale Form, die übereinstimmend in mehreren
Wörterbüchern als Combining form geführt wird, scheint die Form
-lyze (-lyse) zu sein: Sie ist bei Chambers, Longman und Webster's
verzeichnet und entspricht den Verben to dissolve und to decompose.
Lehnert führt acht verschiedene Verbindungen (Lehnert 1971: 195):
analyze, catalyze, dialyze, electrolyze, hydrolyze, plasmolyze
und thermolyze.
Dabei gäbe es neben -lyze (-lyse) durchaus weitere Kandidaten:
- -ceive, wie in conceive, deceive, perceive und receive,
-
- -cute, wie in electrocute und execute,
-
- -(i)fy, wie bereits unter 5.3. und 5.3.1. behandelt,
-
- -here, wie in adhere, cohere und inhere
-
Marchand argumentiert in bezug auf -ceive und -(i)fy, daß sich diese
Formen zwar bei diachroner Betrachtung aus lateinischen Morphemen
capere, 'nehmen, greifen' und facere, 'machen' herleiten. Bei synchroner
Analyse sei es hingegen nicht legitim, diese Formen zu isolieren.
Bei conceive, deceive, perceive und receive sowie bei Bildungen auf
-(i)fy handele es sich um Moneme, die man synchron nicht weiter
analysieren könne. (Marchand 1969: 5f.)
Bei Bildungen auf -ceive mag Marchand hier recht haben.
Der lexikalische Gehalt von -ceive ist synchron tatsächlich schwer zu
beschreiben und weicht je nach Verbindung deutlich ab. Bei Bildungen
auf -here, to stick und auf -(i)fy, to make, to cause to be erscheint
dies jedoch einfacher.
Offensichtlich teilen auch Collins, Longman, das OED und
Webster's die Sichtweise Marchands nicht: Sie alle führen -(i)fy als
Morphem, wenn zwar auch nicht als Combining form, so aber doch als
Suffix.
Die aus execute geclippte Form -cute, die nur in electrocute
belegt ist, wird aus Frequenzgründen in keinem Wörterbuch verzeichnet.
Faßt man jedoch Formen wie speedo- in speedometer oder debtno-
in debtnocrat als Combining forms auf, so müßte man auch -cute
als Combining form werten. Als Clipping würde sich -cute dann in
die affixartigen Ableitungselemente nach Tietze einreihen. (vgl.: 3.3.3.)
5.5. Chemische "Suffixe"
5.5.1. Organische Chemie
Unter 1.4.3. sind bereits terminale Formen aus der organischen Chemie
vorgestellt worden. Mono-Morpheme sind -ane, -ene, -yne und -yl:
-ane |
bedeutet |
saturated, having no multiple bonds, |
-ene |
bedeutet |
having a double bond, |
-yne |
bedeutet |
having a triple bond, |
-yl |
bedeutet |
radical(atom or group of atoms usually incapable of separate existence). |
Vergleicht man Formen wie -ane, -ene und -yne mit als Combining forms erkannten Formen wie
-faced |
entsprechend: having a (certain number or kind of) face(s), |
-androus |
entsprechend: having a (certain number or kind of) male organs,
|
so muß man feststellen, daß -ane, -ene und -yne eigentlich einen
höheren Gehalt an lexikalischer Information aufweisen. Anzahl und Art
der chemischen Bindung sind innerhalb dieser sogenannten Suffixe
schon angegeben, während sich Anzahl und Art des Gesichts bzw.
Anzahl und Art der Staubfäden (einer Blüte) erst aus dem initialen
Element ergibt, mit dem -faced bzw. -androus jeweils verknüpft wird.
Die unter 1.4.3. bereits vorgestellten Mono-Morpheme -ane, -ene, -yne und -yl besitzen einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer
Information. Treffenderweise erkennen daher Webster's und Longman
-yl als Combining form. Was die übrigen Formen -ane, -ene und -yne
betrifft, so kann sich einzig Collins bei -ene zu einer solchen Aussage
durchringen. Im Übereifer scheint es dies dann allerdings auch bei
dem Bi-Morphem -diene zu tun.
Die Bi-Morpheme -diene, -diyne, -triene, -triyne usw. existieren
aber mit gleicher Bedeutung auch als freie Formen. Die Form -diene
ist daher entgegen der Klassifizierung bei Collins keine Combining
form im strengen Sinne.
5.5.2. Biochemie
Aus dem Bereich der Biochemie23 seien die sogenannten Suffixe -ase
und -ose genannt. Die terminale Form -ose bezeichnet Saccharide,
Zucker im weitesten Sinne: cellulose, glucose, fructose, lactose,
maltose, ribose, sucrose.
Die terminale Form -ase bezeichnet Enzyme unterschiedlichster
Funktionen. Enzyme sind Biokatalysatoren, die den Stoffwechsel in
lebenden Organismen steuern, ohne sich dabei zu verbrauchen. Näher
sollen hier nur einige Hydrolasen interessieren, die unter Anlagerung
von Wasser in der Lage sind, Bindungsspaltungen zu katalysieren.
Hierzu gehören:
cellulase, |
die cellulose, |
lactase, |
die lactose, |
maltase, |
die maltose, |
ribase, |
die ribose |
und |
sucrase, |
die sucrose |
spaltet. |
Wo -ose für saccharide steht, steht -ase für das entsprechende Enzym,
das genau diesen Zucker zu verdauen hilft. Die Bedeutungen von -ose
und -ase sind sehr konkret. Sie entsprechen autonomen Monemen:
saccharide bzw. enzyme. Leider erkennt bisher kein Wörterbuch, daß
es sich daher um Combining forms handelt.
5.5.3. Anorganische Chemie
Die teilweise immer noch gebräuchlichen traditionellen Bezeichnungen
für Sauerstoffsäuren (oxoacids) und deren Anionen basieren darauf,
daß ein Zustand relativ hoher Oxidation mit den terminalen Formen -ic (für die Säure) und -ate (für deren Anion) sowie ein Zustand relativ
niedriger Oxidation mit den terminalen Formen -ous (für die Säure)
und -ite (für deren Anion) gekennzeichnet wird24.
Die chemischen terminalen Formen -ate, -ic, -ite, -ous werden von
den näher untersuchten Wörterbüchern alle als Suffixe geführt.
Dies liegt vielleicht daran, daß sie jeweils zusammen mit homophonen
nicht-chemischen Formen verzeichnet werden, die tatsächlich eher
funktionale Aufgaben erfüllen. Die chemischen Formen haben aber
einen höheren Gehalt an lexikalischer Information als entsprechende
nicht-chemische Formen: fortunate, electric, ammonite, dangerous.
Nach distributionell-semantischer Definition kann dem einzelnen
Lexikographen die Entscheidung überlassen werden, ob die zusätzliche
semantische Information, die terminale Formen der anorganischen
Chemie tragen, ausreicht, um sie zu Combining forms zu erheben.
Nach rein distributioneller Definition wäre man sogar gezwungen, sie
als Combining forms zu klassifizieren: Wie oben gesehen, besitzen -ate,
-ic, -ite und -ous sämtlich die "Fähigkeit der Kombination" mit initialen Combining forms: arsen(o)-, chlor(o)-, nitr(o)- und phosph(o)-25.
5.6. Webster's (im Einklang mit der neuen Definition)
Bei aller unter 4.2. geäußerten Kritik an dem wenig abgegrenzten
Begriff "Combining form" bei Webster's sei anerkannt, daß es auch
viele Formen korrekterweise als Combining forms erkennt, die die
anderen Wörterbücher übersehen.
5.6.1. Terminale Formen
|
Chambers |
Collins |
Longman |
OED |
Webster's
|
-(a/o)holic (work-, spend-) |
sufx. |
sufx. |
- |
sufx. |
comb. form |
-land (grass-, high-) |
frei |
frei |
frei |
frei |
comb. form |
-manship (crafts-, horse-) |
- |
- |
sufx. |
sufx. |
comb. form |
-soever (what-, who-) |
- |
in comb. |
- |
prec. by ... |
comb. form |
Die terminale Form -land und unterscheidet sich von freiem land
phonisch: Im Unterschied zu land
[lænd]
wird -land zumeist schwachtonig als
[lǝnd] realisiert. Auch bei Zugrundelegung einer rein distributionellen Definition müßte -land zu den Combining forms gezählt
werden: Als gebundene Form besitzt es die "Fähigkeit der Kombination
mit anderen gebundenen Formen": England
[ɪŋglǝnd].
Als gekürzte (geclippte) Form ist -(a/o)holic
[ǝ'hɒlɪk] phonisch
verschieden von alcoholic
[ælkǝ'hɒlɪk]. Darüber hinaus unterscheiden
sich die Combining form und ihr Etymon auch semantisch: Die Merkmalsbestände decken sich nur teilweise. (vgl. X.2.1.)
Den für terminale Combining forms häufig charakteristischen
Aufbau aus zwei Morphemen weisen -manship und -soever auf.
-manship besteht aus der Combining form -man, addiert um das
Suffix -ship. Der semantische Gehalt von -manship ist daher keinesfalls geringer als jener der Combining form -man. Bei -soever könnte
man hingegen streiten, ob die Addition zweier zwar freier, jedoch
eher funktionaler denn lexikalischer Elemente so und ever tatsächlich einen relativ hohen Gehalt an lexikalischer Information ergibt.
5.6.2. Initiale Formen
In Verbindungen wie he-dog, he-goat, she-bear, she-cat etc. erfüllen he- und she- keine anaphorische, also verweisende Funktion wie die homonymen, frei vorkommenden Pronomen he und she. Die initialen Formen he- und she- dienen rein semantisch als Geschlechtsdeterminierer: male bzw. female. Ihr Gehalt an lexikalischer Information dürfte daher dem der Formen andro- in androcentric, gyn- in gynarchy und -ess in lioness vergleichbar sein.
zum Kapitel 6.